Memorial Week , Wie das Morden zum Alltag wurde, Teil I

Hallo meine lieben Leser,

wie Ihr alle wisst, war ich vor einiger Zeit in Ruanda. Bei meiner Reise dorthin habe ich mich auch mit dem Genozid, der dort im Jahr 1994 stattfand, auseinandergesetzt. Vor meinem Zwischenseminar bzw. meiner Reise nach Ruanda wusste ich selbst nicht unbedingt viel über dieses tragische Ereignis und den schrecklichen Tathergang. Nun möchte ich euch in den nächsten drei Einträgen über den Genozid in Ruanda informieren. Dazu habe ich meinen Regionalbetreuer Bastian um Hilfe gebeten, der sich sehr gut mit diesem Thema auskennt. Falls es euch interessiert, dann nehmt euch bitte Zeit für die nächsten Berichte.

Wie das Morden zum Alltag wurde – Der Genozid in Ruanda 1994

von Bastian Gabrielli

Erinnern Sie sich, wo Sie -sofern alt genug- am 7.4.1994 waren? Die wenigsten werden das. Wir kennen das Phänomen des eingebrannten Tages bei wichtigen, einschneidenden politischen Ereignissen wie vor allem dem 11. September. Dabei nehmen wir nur solche Ereignisse als einschneidend wahr, die uns selbst nah oder durch Berichterstattung näher gebracht werden. Würden wir uns an diesen Dienstag des Jahres 2001 erinnern, wenn nicht den ganzen Tag auf allen Kanälen immer und immer wieder die Flugzeuge in das World Trade Center rasten? Wahrscheinlich nicht. Die Tagesschau vom 7.4.1994 berichtet in ihrem Aufmacher über das Fallen der Arbeitslosenzahlen. Es folgen die Themen Tarifabschluss bei der Bahn, Kohls Appell zur Abschiebung von militanter Kurden, Rüstungslieferungen an die Türkei, Verhandlungen in Bosnien-Herzegowina und Anschläge in Israel. Erst dann berichtet die wichtigste deutsche Nachrichtensendung über den Abschuss des Flugzeuges mit den Präsidenten Ruandas und Burundis über der ruandischen Hauptstadt Kigali und von Unruhen, die es danach in der Nacht gegeben hätte. Zu diesem Zeitpunkt sind bereits Tausende ermordet. Kein Wunder also, dass bei einer derartigen Gewichtung in den deutschen Nachrichten der 7.4.1994 für uns nicht sonderlich einprägsam war.

Jetzt könnte man einwerfen, dass der 11. September dagegen ein global prägendes Ereignis mit Auswirkungen, Kriegsfolgen und Terrorattacken bis heute nach sich zieht. Das trifft aber ebenfalls auf den Abschuss der Präsidentenmaschine 1994 und den damit verbundenen Auslöser für den Genozid zu. Zur Erinnerung: Zwei Präsidenten starben in dieser Nacht vom 6. auf den 7. April. Der Aufmacher der Tagesschau waren die Arbeitslosenzahlen. Nach nur drei Monaten ist der Genozid in Ruanda beendet, mindestens 800.000 Menschen ermordet, unzählige weitere vergewaltigt, verstümmelt, vertrieben und gezielt mit HIV infiziert.Ich glaube, dass unser Empfinden zu einem Ereignis vor allem durch Berichterstattung und unser Wissen darüber geprägt werden. Aber auch zu unserer persönlichen Nähe zur Thematik.

Der 7. April ist jedes Jahr der Auftakt zur Memorial Week in Ruanda und ein Tag des Gedenkens. Raphael bat mich, da er selbst kürzlich in Ruanda war und wir auf dem Seminar über das Thema sprachen, seinen Lesern das Thema näher zu bringen. Das möchte ich mit diesem Beitrag tun. Um etwas mehr zu berichten, etwas mehr Wissen und auch Nähe zu vermitteln. Naturgemäß wird dies ein längerer Beitrag – ich versuche mich dennoch so kurz wie möglich zu fassen. Auch wenn es ein schweres Thema ist, würde ich mich freuen, wenn Sie den Beitrag in voller Länge lesen. Vielleicht eingeteilt, in kleine Happen den Tag über oder über das Wochenende. Insbesondere im Abschnitt ‚100 Tage‘ geht es zudem um den Ablauf des Genozids selbst – hier werde ich nicht drumherum kommen, explizite Gewaltakte und ihre Brutalität zu erwähnen (wenn auch nicht in allen Details zu beschreiben, es geht mir mehr um den Überblick). Empfindlichere Leser möchte ich daher vor diesem Abschnitt ein wenig warnen.

Von Hutu und Tutsi

Viele haben schon mal von Hutu und Tutsi gehört oder verbinden diese auch direkt mit dem Völkermord in Ruanda. Um zu verstehen -sofern ein Verständnis solcher Gewalt denn möglich ist- wie es dazu kommen konnte, dass radikale Hutu 1994 Hunderttausende Tutsi und gemäßigte Hutu ermorden, ist kaum überraschend ein Blick in die Geschichte nötig.

Und zunächst eine Definition, denn anders als früher oft angegeben, waren Hutu und Tutsi keine unterschiedliche Ethnien, keine Völker, keine Stämme. Sie waren vielmehr Stände: Ethnien unterscheiden sich durch ihre Kultur, Tradition, Herkunft und Sprache. Sowohl Hutu als auch Tutsi teilen aber seit Jahrhunderten die selbe Kultur und Sprache. Wann genau sich beide Gruppen im heutigen Ruanda ansiedelten, ist unklar. Doch schon hunderte Jahre vor der Ankunft sogenannter europäischer Entdecker lebten beide im Königreich Ruandas, das überwiegend von Tutsikönigen regiert wurde. Wir kennen das Ständesystem aus der europäischen Geschichte: Gesellschaftliche Gruppen, etwa Bauern, Adel und Klerus, deren Grenzen in der Theorie zwar durchlässig, in der Praxis aber kaum überwindbare Hürden darstellen. Ein Bauer bleibt ein Bauer, dass er vom König geadelt wurde, war kaum wahrscheinlich. Ähnlich in Ruanda: Die Tutsi bildeten den Beamtenstand, Verwalter und Viehbesitzer. Vieh bedeutete Vermögen. Die überwiegende Mehrzahl der Hutu dagegen waren einfache Arbeiter und Bauern.

Beide Gruppen waren einst aus verschiedenen Regionen nach Ruanda eingewandert: die Hutu als Bantu aus westlicher Herkunft, die Tutsi eher aus nordöstlicher Richtung. Obwohl sie daher ursprünglich einmal unterschiedliche Ethnien darstellten, wurden sie durch Jahrhunderte gemeinsamen Lebens zu einem einzigen Volk und zu den erwähnten Ständen. Zwar gab es Mischehen, doch wir kennen auch das aus Deutschland: Zwischen verschiedenen sozialen Schichten gibt es oft wenig Kontakt. Bei einem Ständesystem nochmal umso mehr – will sagen, die Anzahl der Mischehen war gering. Dadurch behielten viele (ich sage bewusst viele, nicht die meisten oder gar alle) Ruander jener Zeit die äußerlichen Merkmale ihres Standes, etwa hoher Wuchs und hellere Haut bei den Tutsi, die allgemein als sehr schön empfunden wurden, und dunklere Haut mit kräftigerer Statur bei den Hutu.

Als dann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die ersten Europäer kamen, fanden sie dieses gesellschaftliche Konstrukt vor und versuchten es mit der ihrer Zeit durch Darwins Theorien angestoßene Rassenvorstellungen zu erklären. Und Ruanda passte wunderbar in das Rassenbild der Europäer: Die Tutsi als heller, schöner – ja den Europäern dadurch ähnlicher, schienen durch ihre gesellschaftliche Rolle intelligenter als die wesentlich dunkleren, einfacheren Hutu, die nach der Idee der europäischen Rassisten zu nicht mehr als einfacher Arbeit taugten.

Nach der Kongokonferenz von 1885 wurde Ruanda deutsche Kolonie. Dass die Deutschen führend in der Rassenideologie waren, ist wohl müßig zu erwähnen. Und so mag es kaum überraschen, dass die Kolonialisten ausgestattet mit allerlei Messgeräten die Menschen nach Farbskalen und Nasenlänge untersuchten. Wir kennen solche Bilder aus dem Nationalsozialismus. Und gemäß dem Wahn der Deutschen wurden die Tutsi gezielt für Verwaltungsaufgaben eingesetzt, während die Hutu zu einfachen, harten Arbeiten herangezogen wurden. Das erste Mal wurden aus Ständen Rassen, das erste mal tauchten die Tutsi als Handlanger der Unterdrücker auf – zumindest in den Augen der zu Zwangsarbeiten herangezogenen Hutu.

Mit der Niederlage im Ersten Weltkrieg ging Ruanda zusammen mit dem südlich benachbarten Burundi zu Belgien über, das schon den westlichen Nachbarn, den Kongo, als Kolonie ausbeutete. Die Belgier standen den deutschen Rassisten in nichts nach und gingen sogar weiter: Wer mehr als die vollkommen willkürlich gewählte Anzahl von zehn Rindern besaß, wurde als Tutsi geführt und wer weniger besaß als Hutu. Neu ausgestellte Pässe für jeden Ruander beinhalteten die Angabe der nun festgeschriebenen Rasse. Kinder übernahmen die Angehörigkeit ihres Vaters.

Nun waren aus den einstigen Ständen endgültig festgeschriebene und vererbbare Ethnien gemacht worden, die nicht zu wechseln waren. Die Spaltung der ruandischen Gesellschaft war damit vollzogen und dem Hass radikaler Hutu die Saat gesetzt. Es folgten einige Jahrzehnte, in denen die Belgier eine ähnliche Verwaltungspolitik verfolgten wie die Deutschen und gezielt Tutsi zu Beamten ausbildeten. Die höheren Ausbildungswege waren für Hutu selten zugänglich.

In den 50er Jahren des 20. Jahrhundert setzte in Europa – ausgelöst durch den Rassenhass der Nazis und der Shoa – ein Umdenken in vielen europäischen Köpfen ein. Der Gedanke der biologischen Rassen schien überholt und ein neues Denken wurde modern: Ein pessimistisches Zivilisationsbild und eine Idealisierung des sogenannten „Edlen Wilden“, also von Völkern, die vermeintlich einheitlich mit der Natur lebten und deren scheinbare Idylle vielen vom Krieg geplagten Europäern als paradiesisch erschien. Auch unter belgischen Geistlichen begann ein derartiges Umdenken. In den Kolonien waren es häufig Geistliche gewesen, die sich um die Bildung der Einheimischen kümmerten. Und dieses Umdenken wirkte sich unter dem Druck jener Geistlichen auch in Ruanda aus. Plötzlich schienen die Hutu, die so einfach lebten, fördernswert und die Tutsi als verkopfte Verwalter nicht mehr opportun. Im Prinzip wurde das Bildungssystem mit seinen Diskriminierungen umgedreht und den Tutsi wurde vermehrt der Zugang verwehrt.

Auch begannen in den 50er Jahren in ganz Afrika die Unabhängigkeitsbewegungen fordernder zu werden. Auch hier setzte nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa ein Umdenken ein. Ruanda bildete keine Ausnahme und wurde 1962 ein unabhängiger Staat. Bereits zuvor fanden Wahlen statt und die größte Hutupartei gewann mit 77% der Stimmen – die Hutu bildeten mit sehr grob geschätzten 80% die deutliche Bevölkerungsmehrheit.

Morgen folgen die Kapitel  „Der Weg zum Völkermord“ sowie „100 Tage“.

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